LA BOHÈME

Oper von Giacomo Puccini

Haus für Mozart, Salzburg

Premiere am 26.02.2017

Pressestimmen

Unterhaltungslust
Andreas Gergen wagt sich gemeinsam mit seinen Bühnenbildnern vom Visual-Arts-Duo FettFilm weit hinein in die Welt der zeitgenössischen berufsjugendlichen Kreativ-Bohème. Dabei macht er vieles richtig. Wie auch das ausgesprochen feinsinnig besetzte Ensemble, allen voran die mit tief gehender Dramatik ausgestattete Shelley Jackson als Mimí und Elliott Carlton Hines, der den Schaunard mit so überzeugendem Hipster-Hedonismus spielt und singt, dass der Popkultur-Bezug selten ins Manierierte kippt.
Dass der Dreh ins Heute jedoch so konsequent gelingt, liegt zum größten Teil an einem klugen Regie-Trick. Denn Gergen verzichtet darauf, die gesamte Bohème in die Jetztzeit zu hieven. Vielmehr lässt er die Originalzeit der Geschichte in Teilen bestehen und als nostalgische Romantik parallel zur kühlen Techno-Gegenwart laufen. Rodolfo hackt in seinen Laptop, Mimí singt herzzerreißend vom Frühling und die Videoprojektion schafft ihr eine bühnengroße Blüten-Rosette, die gleichzeitig die Retro-Kitsch-Verliebtheit der Hipster-Generation bedient und eine werktreue Entsprechung zum Libretto liefert.
Gergen hat ein gutes Gespür für diese Hybrid-Momente, die Werkgeschichte und Zeitgeist zum Inszenierungsspektakel verfließen lassen. So auch im zweiten Akt zum Party-Trouble im Café Momus. Da wird das 19. Jahrhundert samt Cul-de-Paris-Kleidern des Chors und den Fassaden des Quartiers original getreu nachgebildet, während Musetta (Hailey Clark mit passend überdrehter und fast piepsiger Stimme) ihre narzisstische „Quando m’en vò“-Arie auf einem Bierkisten-Podium performt. Schließlich verwandelt sich Parpignol in einen DJ, der sein Plattenteller-Pult samt den musikalisch in das Orchester hineinfahrenden Beats auf die Bühne schiebt.
Über diese Gegensätze von Coolness und Nostalgie, Selbstinszenierung und romantischem Sehnen ist der Jugend sowieso am nächsten kommen. Auch deshalb ist Gergens Verzicht auf eine eindeutige Ästhetik zu Gunsten des Potpourris hier kein fahler Kompromiss, sondern bestärkt grell das Drama jugendlichen Wankelmuts. Die Inszenierung, die sich selbst ständig zwischen Romantik und Moderne hin- und herwerfen lässt, bekommt die „Bohème“, die schon so oft im sülzenden Blick eines Erwachsenen auf seine eigene längst verflossene Jugend ersoffen ist, erstaunlich gut zu fassen.
(Süddeutsche Zeitung)

Er der Poet, sie die Poesie
In Puccinis Zeit war die scheiternde Liebe unter Traumtänzern ein denkbar starker Kontrast zum Korsett bürgerlicher Denkungsart. Im Paarship-Zeitalter ist die Überforderung in Beziehungssachen gelebter, also überprüfbarer Alltag. Also die Bestätigung der „Bohème“: Man trennt sich, wenn’s brenzlig wird in der Beziehung, so wie eben Rodolfo sich feig davon gemacht hat angesichts des letalen Hustens seiner Mimi. Andreas Gergen zeigt, dass es nur ganz wenig Verrenkung braucht, um diese Oper ins unmittelbare Heute zu übersetzen, sofern man die Hebel an den wirklich entscheidenden Stellen ansetzt.
Harte Beats, dann erst geht es los mit Puccinis Musik. Junge Leute lauschen wie ferngesteuert ihrer je eigenen Musik aus dem Kopfhörer, in der Gruppe und doch hoffnungslos allein zwischen die Bierkisten und auf sich gestellt – das Motiv wird in allen vier Akten durchgespielt. Nie und nimmer kann es gut gehen zwischen Mimi und Rodolfo, viel zu tief sind die beiden eingetaucht in ihre jeweiligen solipsistischen Utopien von Zweisamkeit. „Ich der Poet, sie die Poesie“, so stellt Rodolfo die junge Frau den Freunden vor, sie, die Lilien und Rosen freuen, „die von der Liebe sprechen und vom Frühling, die mir von Träumen sprechen und von Chimären“. Paartherapeuten würden letztlich ausgebliebene „Beziehungsarbeit“ diagnostizieren.
Das ereignet sich im Haus für Mozart in einem gar wundersamen bühnenbildnerischen Ambiente von fettFilm (Momme Hinrichs, Torge Møller), einer unbestimmten architektonischen Mixtur aus Innen und Außen, die (wie in rascher Film-Überblendung) geeignet ist, sich spontan zu weiten für die lebhaften Volksszenen im Quartier Latin, um gleich wieder ganz klein und intim sich zusammen zu ziehen. Die Video-Einblendungen stehen für Utopien und Träume, für surreale Erwartungen an einen Partner mit einer fatalen Eigenschaft: Er ist real. Das ist der Konstruktionsfehler dieser (und vieler heutigen) Paar-Aufstellungen. Der Schnee landet letztlich in der Glaskugel, wird wie andere Bild-Metaphern künstliches Versatzstück wie die Liebe selbst.
Die Sänger-Gästeschar wirkt handverlesen und die eigenen Ensemblemitglieder brauchen sich auch nicht zu verstecken. David Pershall ist ein sehr differenzierter, in der Höhe weicher Marcello, der gegenüber der gelöst-freien Musetta (Hailey Clark) doppelt verletzlich wirkt. Die Regie arbeitet dieses Paar sehr aufmerksam als quasi-realistisches Gegenmodell zur Traumtänzer-Liebe zwischen Mimi und Rodolfo heraus. Raimundas Juzuitis wird im Mantellied gar wunderbar getragen von der Dirigentin: So klingt Resignation, auch im Orchester. Ein Ensemble-Kabinettstück ist die Tanzszene der vier Freunde (mit Elliott Carlton Hines als Schaunard) im vierten Akt, wie überhaupt diese „Bohème“ auch ob ihrer akkurat gleichgewichtigen Ensembles besticht, in die sich Franz Supper als Parpignol, Einar Th. Gudmundsson als Benoit und – als Leihgabe aus dem Schauspielensemble – Axel Meinhardt als Alcindoro eben so gut einfügen wie auch der Chor und der Kinderchor.
Wie sie alle da stehen am Ende, nicht zu nahe bei Mimi: So peinlich berührt kann man sein, wenn das Leben selbst plötzlich da ist, in Gestalt des Ablebens.
(drehpunktkultur)